Über firmenintern bekannte, extreme Charaktere (= Piloten) in den Cockpits, spricht man oft nur hinter vorgehaltener Hand. "Harmlose" Fälle werden teilweise belächelt oder als schrullig abgetan. Allerdings gibt es eine Vielzahl von Fällen, die weniger spektakulär sind und dennoch ein Sicherheitsrisiko darstellen. Die von mir selbst erlebte Anzahl lässt dabei auf eine hohe "Dunkelziffer" schließen.
Der folgende Bericht aus dem Jahr 1992 beschreibt das von mir erlebte Verhalten eines Kapitäns, das so oder in ähnlicher Form für eine Anzahl von Piloten typisch ist. Es ist ein Verhalten, das verwundert und über Jahre toleriert wird, obwohl es oftmals den Flotten bekannt ist. Wer kennt die tägliche Anzahl der Flüge unter diesen Bedingungen?
Mein Anliegen ist es, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass Wege gefunden werden müssen, solchen Menschen frühzeitig zu helfen.
In dem nun folgenden und in vielerlei Hinsicht typischen Beispiel war ich FO (First Officer = Copilot) auf einem Airbus. Der Flug sollte von A über B nach C gehen und auch auf diesem Weg zurück. Für die ersten beiden legs (Teilstrecken) war ich der PNF (Pilot Non-Flying = nicht fliegender Pilot), der sich um den Funksprechverkehr, das Fahren der Vorflügel bzw. Landeklappen und vieles mehr kümmert.
Hinflug
Es waren noch einige Minuten Zeit bis zum Briefing (Information der Besatzung über den Flug) und ich war auf dem Weg zu Dispatch (Flugplanung), aber meinen Kapitän hatte ich noch nicht gesehen. Plötzlich kam ein Kapitän von Dispatch auf mich zu und fragte, ob ich der Copilot sei, der nach ---- wolle. Ich sah ihn erstaunt an, aber da fuhr er schon fort, er hätte schon alles bestellt und im übrigen "ginge das Sprit bestellen ohne Copilot sowieso viel besser". Diese Bemerkung verwunderte mich zwar, aber ich ging darüber hinweg, weil ich dachte, dass es spaßhaft gemeint war. Zumal er dann sagte, er gehe jetzt zum Kabinenbriefing und ich könnte noch so lange hier bleiben, da er ja ohnehin wieder vorbeikäme.
Wir fuhren dann gemeinsam zum Flieger und seine Ansichten über guten Führungsstil vermittelte er so gleich zwei jungen, unerfahrenen Kolleginnen aus der Kabine. Er erklärte, wie er jeden Crewbusfahrer zur Schnecke machen würde, der ihm zu schnell fahre. Er mache dies, indem er klare Befehle erteile, dozierte er. An Bord begann ich dann mit meiner Arbeit im Cockpit.
Nach dem Takeoff (Start) rief ich in ca. 1.900ft Höhe über dem Boden ATC (Flugsicherung) und bemerkte dabei, dass er zum Beschleunigen die Flugzeugnase ungewöhnlich tief nach unten drückte. Noch während ich die ATC–Clearance (Flugweg-Freigabe) zurücklas, kommandierte er "Slats up" (Vorflügel einfahren), woraufhin ich mit der anderen Hand schnell die Slats einfuhr, denn bei der geringen Pitch (Anstellwinkel) beschleunigten wir ungewöhnlich schnell. Danach drehte ich, noch immer die Freigabe zurücklesend, den neuen FL (Flight-Level = Flugfläche) ein. Noch wunderte ich mich über das schlechte Timing des Kommandos, doch erhärtete sich später der Verdacht, dass durchaus System hinter diesem Verhalten steckte.
Im Anflug auf den ersten Stop wartete er wiederum bis ich mit ATC beschäftigt war, um mir dann das Kommando zum Slats/Flaps (Vorflügel/Landeklappen) fahren zu geben. Ein Grund, die Slats nun unbedingt an dieser Stelle zu kommandieren, war für mich nicht ersichtlich. Die ganze Sache kam mir merkwürdig vor.
Er flog auch das zweite Leg (Teilstrecke). Nach dem Takeoff (Start) sagte ich als Warnung, um ihn nicht zu erschrecken: "Engine No. 2 ist sehr heiß, ich ziehe mal den Throttle (Gashebel) etwas zurück." Noch während ich meine Hand auf den Gashebel legte, drängte er mit Gewalt meine Hand weg. Gleichzeitig rief ATC und gab uns eine neue Flughöhe wegen Traffic (Flugverkehr). Da er meine Hand weggestoßen hatte, dachte ich, er hätte alles unter Kontrolle und kümmerte mich um die neue Freigabe. Ich wechselte die Höheneingabe, setzte den neuen HDG (Steuerkurs), las alles zurück und hörte gleichzeitig das Kommando: "Climb Power" (Steigflug-Leistung). Ich war der Meinung, er hätte den A/T (die automatische Schubstellung, die die Leistung für alle Triebwerke regelt) ausgeschaltet, weil man ja anderenfalls die Leistung auf einem einzelnen Triebwerk nicht reduzieren kann. Aus diesem Grund wollte ich manuell Climb-Power setzen. Da sah ich, dass die EGT (Abgas-Temperatur) von Engine No.2 immer noch am Limit (maximal erlaubte Temperatur) stand. Jetzt war mir klar, dass er, außer meine Hand wegzustoßen, an den Throttles nichts verändert hatte. In diesem Moment beugte er sich vor und drückte selbst auf den Knopf am automatic throttle für die Climb-Power.
Ich kontrollierte noch, dass die Gashebel automatisch zurückfuhren und die Temperaturen zurückgingen, als ATC schon wieder rief. Es gäbe conflicting Traffic (kreuzenden Verkehr) und ich soll sofort die Frequenz wechseln. Noch während ich mich dort meldete, sah ich, wie er die Slats alleine einfuhr, ohne Kommando, ohne Warnung, einfach so. Ich prüfte die Geschwindigkeit und Pitch, sah ihn erstaunt an und kümmerte mich dann weiter um ATC und die neuen Anweisungen.
Im Reiseflug bemerkte ich, dass wir versehentlich noch VOR (Funkfeuer) Nr.1 auf manuell, statt auf auto, stehen hatten, aber es wurde nichts mehr angezeigt, da wir die Reichweite überschritten hatten. Um ihn nicht zu provozieren, fragte ich zurückhaltend, ob er VOR Nr.1 noch für irgend etwas (zukünftiges) gerastet lassen wolle. "Natürlich nicht!" sagte er böse und schaltete es weg. "Du weißt doch ganz genau, dass ich es nicht mehr brauche. Frag doch nicht so arrogant!"
Ich: "Bei manchen Herren auf dem linken Sitz muss man etwas vorsichtiger sein."
So ging das Zwiegespräch noch eine Weile weiter, bis der Kapitän mit dem "Totschlag-Argument" kam: "Wenn Du für diesen Beruf nicht geeignet bist, dann solltest Du einfach etwas anderes machen! Es ist absolute Priorität, das Flugzeug zu fliegen und nicht mit ATC rumzumachen, wenn ich Dich brauche!"
Ich: "Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass Du mit Absicht Situationen provozierst!"
Er: "Nein, das mache ich nicht!"
Ich: "Doch, Du machst das sehr wohl mit Absicht, denn so viele Zufälle gibt es nicht. Und Du beeinträchtigst mit dieser Art der Zusammenarbeit die Flugsicherheit. Ich werde dies beim LBA (Luftfahrt-Bundesamt) melden und unabhängig untersuchen lassen."
ENDE DER DEBATTE. DICKE LUFT. NIEMAND TRAUTE SICH MEHR INS COCKPIT.
Der Anflug war normal, aber nicht elegant. ATC teilte uns mit, dass für den Anflug auf die Hauptlanderichtung die Gefahr des Durchfluges durch einen Sandsturm zu befürchten sei und sie empfahlen uns, die andere Landebahn zu nehmen. Dies lehnte er ab und flog in die Ausläufer des Sandsturmes, um nach den heftigen Turbulenzen doch abzudrehen zur anderen Bahn. Dies schien ihn irgendwie noch mehr zu wurmen, denn die Luft wurde mit abnehmender Höhe immer dicker und das lag weder an der Klimaanlage noch am Wetter.
In 500ft hatte ich den Eindruck, jetzt platzt er gleich. Warum, weiß ich nicht. In 20ft riss er plötzlich die Power (Leistung) auf idle (Leerlauf) und wir rauschten dem Boden entgegen. Eine unsanfte Landung war somit programmiert und es bummste ordentlich.
Damit waren zwei Legs vorüber und ich freute mich auf den Rückflug.
Rückflug
Auf dem Rückflug, während meiner 2 legs (Teilstrecken) als PF (Pilot Flying = steuernder Pilot), war er sehr zurückhaltend, sehr ruhig. Trotzdem war die Arbeitsatmosphäre gespannt und für meine Auffassung von Sicherheit und "Klima im Cockpit" nicht akzeptabel. Dass diese Ruhe aber trügerisch war, erkannte ich daran, dass er immer wieder in meine Flugdurchführung eingriff (HDG und ALT = Kommandogeber für den Autopiloten) verstellte, Knöpfe drückte, Kommandos gab, etc.. Er entschuldigte sich zwar immer sofort, aber an der selbstverständlichen, "geübten" Art, in der er meinen Autopiloten zu seinem machte, war zu erkennen, dass er dieses Verhalten immer oder zumindest oft an den Tag legen muss. Die langen Entschuldigungen, die diesem aktiven Eingreifen folgten, bewiesen ja erstens, dass es gar keinen Grund gab, einzugreifen, und zweitens, dass er sich selbst nicht unter Kontrolle hatte. An den Stellen, wo er berechtigterweise etwas korrigiert hatte, habe ich ihm immer zugestimmt, aber er könne es ja auch sagen, (statt mich wie einen dummen Jungen zu behandeln). Letzeres dachte ich mir, drückte es aber nicht aus, um die Stimmung nicht weiter zu belasten. Für mich gab es keinen Zweifel, dass diese Art der "Zusammenarbeit" sein Stil war. Damit wollte er sicherstellen, dass sein geringes Selbstwertgefühl durch einen möglicherweise selbstbewussteren Copiloten nicht noch weiter verringert wird.
Analyse
Solche Kapitäne werden als Repräsentanten einer Fluggesellschaft immer wieder auffällig. Sie werden immer wieder ein schlechtes Arbeitsklima in der Kabine erzeugen und eine unsichere Cockpitatmosphäre hervorrufen. Sie sind an ihren Passagieransagen zu erkennen und sie prägen in hohem Maße den flugbetrieblichen Arbeitsstil. Sie sind bei den Bodenstationen bekannt und von den Mechanikern gefürchtet. Es gibt niemanden, der gerne mit ihnen zusammenarbeitet. Sie sind mitverantwortlich für das weitverbreitete Negativimage bei Piloten. Selbstbewusste Menschen sind nicht hochnäsig.
Ein autoritärer Führungsstil wurde früher den Kapitänen im Training mitgegeben, sicherlich unterschwellig aus Angst vor Autoritätsverlust. In meinem Training zum Kapitän bin ich nur einem Einzigen solch ewig Gestrigen begegnet. Aber einige Ausbilder arbeiten noch immer mit diesem "Stil" und unterstützen die Haltung, dass der Kapitän durch eine saubere Uniform und das Aufsetzen eines Hutes erst zu einem solchen wird. Von daher verwundert es nicht, dass einige Kapitäne fürchten, ohne diese Insignien machtlos zu sein.
Bekannt und sichtbar werden solche Verhaltensweisen oftmals bereits während der Schulung. Aber erst dann, wenn der Mann Kapitän ist und massive Beschwerden oder schwerwiegende Vorkommnisse vorliegen, werden Wege gesucht, ein solches "Sicherheitsrisiko" sozialverträglich vom Steuerhorn fernzuhalten.
Wenn es einmal so weit gekommen ist, dann ist es fast zu spät, um solch einem Piloten noch helfen zu können. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte, in den meisten Fällen, noch sehr viel, bei entsprechender Betreuung, getan werden können.
Wie kann so ein Pilot Kapitän werden, ohne dass irgendwelche Netze greifen? Haben wir denn überhaupt Auffangnetze zur psychologischen Hilfestellung?
Unser System aus Checks und sonstigen Überprüfungen ist in erster Linie eine manuelle Leistungsüberwachung, wo genau messbare Parameter als Maßstab dienen. Die Persönlichkeit und die Fähigkeit im Team zu arbeiten wird nicht annähernd ihrem Stellenwert entsprechend bewertet, von wem auch.
Welche Hilfestellung bietet denn eine Fluggesellschaft ihren Mitarbeitern auf diesem Gebiet an? Warum haben die Verantwortlichen bis heute in diesem Bereich noch kein "Auffangnetz" geschaffen, welches diesen Menschen aus ihrer psychischen Misere hilft?
Fazit
Ich finde, es ist höchste Zeit, dass über dieses Thema endlich einmal offen und ehrlich gesprochen wird. Wir dürfen nicht so lange warten, bis ein Unfall diese Schwachstelle ans Licht bringt. Genauso wie uns damals Izmir (Absturz einer B 737) die unglaubliche Art vor Augen führte, wie manche Kapitäne mit ihren Mitarbeitern umgingen. Erst als dies auf dem Band (Cockpit Voice Recorder) dokumentiert war, wurde gehandelt.
Unfall Boeing B 737-230, 02. Januar 1988, nahe Izmir:
PROBABLE CAUSE: "The accident occurred due to the wrong use of navigation aids. The cause is attributed mainly to the lack of adherence to company procedures especially in respect of crew coordination during approach and basic instrument flying procedures."
Quelle:
FUS Flugunfall-Kurzbericht 2X0001/88
ICAO ADREP Summary 3/89 (#6)