Der weltweite Trend Flugunfälle zunehmend zu kriminalisieren, erfordert eine kritische Überprüfung, ob diese Praxis wirklich der Sicherheit dient. Aufgrund dieser Entwicklung kann jeder Techniker, jeder Pilot, jeder Fluglotse, aber auch der Vorstand einer Fluggesellschaft wegen simpler Fahrlässigkeit, die vielleicht zum Unfall beigetragen hat, verurteilt werden.
Flugunfälle werden häufig durch Fehler oder falsches Verhalten verursacht, aber selten durch vorsätzliches Handeln. Bekommt die Schuldzuweisung mehr Gewicht als die Aufklärung der Unfallursache?
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und Unfalluntersuchungen haben nicht das gleiche Ziel: im ersten Fall werden Schuldige gesucht, im zweiten Fall dienen die Erkenntnisse zur Verbesserung der Flugsicherheit. Für die Unfall-Beteiligten führt eine Kriminalisierung zu dem Effekt, dass sie entweder überhaupt nichts mehr sagen, ihre eigene Mitwirkung herunterspielen oder auch völlig anders darstellen. Obwohl nach ICAO Annex 13 die Staaten verpflichtet sind, eine unabhängige Flugunfalluntersuchung durchzuführen, gehen immer mehr Staaten dazu über, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen und Schuldige zu suchen.
In den USA hat der Kongress die Untersuchung von Flugunfällen dem NTSB (National Transportation Safety Board) übertragen. Die Unfalluntersuchungsberichte dürfen nicht vor Gericht als Beweismittel verwendet werden. Es bleibt den Anwälten jedoch überlassen, eigene Untersuchungen durchzuführen, auch unter Verwendung des NTSB Unfallberichtes. Allerdings kann der Flugdatenschreiber sowie der Cockpit Voice Recorder für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen herangezogen werden. Das Gericht ist im Falle der Klageerhebung verpflichtet, den Inhalt der Geräte nicht zu veröffentlichen.
In Frankreich hat die Flugunfalluntersuchungsbehörde nur eingeschränkte Rechte an der Unfalluntersuchung.. Hier können die Ermittlungsbehörden wichtige Beweise sicherstellen und unter Verschluss halten.
In der Europäischen Union (EU) sind alle Mitgliedsstaaten Unterzeichner des Chicagoer Abkommens und damit aufgefordert, Flugzeugunfälle zu untersuchen. Die EU-Kommission hat mit der Direktive 94/56/EC die in Annex 13 (ICAO) festgelegten Prinzipien übernommen und die EU-Mitgliedsstaaten zur Übernahme verpflichtet.
Doch enthält die Direktive 94/56/EC Schwachpunkte in der Frage der Verantwortlichkeit des Staates, in dem der Unfall stattfand. So ist weder die Sicherung der Unfallstelle noch die Sicherstellung von Beweismaterial (inklusive der Zeugenaussagen) eindeutig festgelegt. Auch ist der Schutz von sensiblen Sicherheitsinformationen nicht gewährleistet. Es bleibt also den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten überlassen, hier besonders restriktiv tätig zu werden.
Nachfolgend einige Beispiele für die Kriminalisierung von Mitarbeitern:
ValuJet Flug 592
Am 06. Mai 1996 stürzte ValuJet Flug 592 in die Everglades, Florida. Die Ursache waren falsch verladene Sauerstoff-Generatoren im Frachtraum der MD-80. Die Verladefirma SabreTech und drei Mitarbeiter wurden wegen "Verschwörung zur Fälschung von Wartungsnachweisen und Verladepapieren, vollendeter Fälschung von Wartungsnachweisen und Verladepapieren, Nichtbeachtung von Vorschriften für gefährliche Güter, Verladen von explosionsfähigen Gegenständen in ein Flugzeug". Damit entstand der Eindruck, dass die drei Mitarbeiter vorsätzlich den Unfall verursacht hätten. Das Berufungsgericht stellte später fest, dass die Mitarbeiter zwar Fehler gemacht hatten, aber dies keine kriminelle Handlung gewesen ist.
Air Inter, nahe Straßburg
Am 20. Januar 1992 stürzte ein Air Inter A320 beim Anflug auf Straßburg in den Vogesen ab. Die Ursache, laut Untersuchungsbericht, war der Fehler der Piloten, den Autopiloten im "Vertical Speed Mode" zu lassen, anstatt in den "Flight Path Angle Mode" zu gehen. Der eingegebene Sinkflugwinkel von 3,3 Grad wurde vom Autopiloten so als 3.300 ft Sinkflugrate interpretiert. Ein Strafverfahren gegen leitende Mitarbeiter von Air Inter, Airbus, der zuständigen Luftfahrt-Behörde und Air France wurde eingestellt, jedoch Airbus und Air France für haftend erklärt.
Concorde Absturz
Am 25. Juli 2000 stürzte eine Air France Concorde, kurz nach dem Start vom Flughafen Charles de Gaulle (Paris), ab. Alle Personen an Bord kamen ums Leben. Sowohl die französische Unfalluntersuchungsbehörde BEA als auch die Staatsanwaltschaft untersuchten den Absturz. Sehr bald konzentrierten sich die Ermittlungen auf ein Metallstück aus Titan, das eine DC-10 der Continental Airlines während des Starts verloren hatte und bei der Concorde einen Reifen aufschlitzte. Die Reifenteile rissen Löcher in die Flächentanks, das heraus fließende Kerosin entzündete sich und die Maschine stürzte ab. Das Gericht verurteilte Continental Airlines und den verantwortlichen Mechaniker zu Geld- bzw. Haftstrafen. Prozessbeobachter sprechen jedoch von einem politisch motivierten Urteil, denn weder die Air France noch der Flugzeughersteller Aerospatiale erhielten irgendeine Mitschuld.
Mailand, Linate Flughafen
Am 05. Oktober 2001 stieß auf dem Flughafen Mailand Linate eine Scandinavian Airlines MD-87 während des Starts in dichtem Nebel mit einer Cessna 525-A zusammen, wobei alle Passagiere an Bord beider Maschinen starben. Die Cessna war auf die aktive Startbahn gerollt, nach dem die Crew den falschen Taxiway gewählt hatte. Die MD-87 hob nur kurz vom Boden ab und schlug dann in einer Gepäckhalle am Ende des Flughafens auf. 2004 verurteilte ein Gericht in Mailand vier Verantwortliche (Flughafen-Manager, Fluglotse, Flugsicherungs-Manager) zu sechseinhalb bis acht Jahren Haft. 2005 erhielten vier weitere Personen (drei Mitarbeiter der Flugsicherung, ein Flughafen-Mitarbeiter) Haftstrafen von drei bis vier Jahren.
Crossair, Zürich, 2001
Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen begannen erst mit dem Vorliegen des Endberichtes der Flugunfalluntersuchungsbehörde. Am 24. November 2001 war ein Avro Jet 146 der Crossair beim Anflug auf Zürich in der Nähe von Bassersdorf gegen einen Berg geprallt. Im Endbericht wurde festgestellt, dass der Kapitän übermüdet und überarbeitet war, und er außerdem zu tief angeflogen war. Außerdem wurde die mangelnde Sicherheitskultur bei der Crossair angeprangert. Im Oktober 2007 sind sechs Crossair-Manager zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt worden. Im Mai 2008 sprach ein Schweizer Bundesgericht die ex-Crossair Mitarbeiter frei von allen Anschuldigungen.
Schlussfolgerungen:
Die vorgeschriebene Unfalluntersuchung macht eigentlich eine strafrechtliche Verfolgung unnötig. Auch fördert eine Strafandrohung kaum die Flugsicherheit. In den USA hat die starke Stellung der FAA, die keine strafrechliche Verfolgung vornehmen darf, wohl aber die Lizenz entziehen kann, die Flugsicherheit nachhaltig gefördert. Auch genießt das NTSB, als untersuchende Flugunfallbehörde, höchstes Ansehen, so dass selten die festgestellten Unfallursachen angezweifelt werden. Dementsprechend sind nur wenige Strafverfahren nach Flugunfällen eingeleitet worden.
Als Ergänzung für die Verbesserung der Flugsicherheit gibt es auch so genannte freiwillige Berichtssysteme, die möglichst viele Informationen im Vorfeld eines Zwischenfalls erfassen können. Dabei ist die Voraussetzung, den Berichtenden Straffreiheit zu garantieren, außerordentlich schwierig einzuhalten. Zwar fordert die ICAO im Annex 13 die Einführung von vertraulichen Berichtssystemen in den Mitgliedsstaaten, doch im Anhang E zu Annex 13 werden nur Leitlinien zur juristischen Behandlung der Berichtssysteme und der Berichte aufgestellt, keine verbindlichen Empfehlungen gegeben .
Hintergrund der Anstrengungen zur Einführung eines globalen Netzes von vertraulichen Berichtssystemen ist die Hoffnung, rechtzeitig wichtige Informationen über Schwachstellen im System Luftverkehr zu erhalten, um Unfälle zukünftig zu verhindern. Voreilige Justizbehörden können jedoch durch Strafandrohungen die zarte Pflanze "Berichtssysteme" zerstören, bevor sie überhaupt aktiv wird.
Hinterbliebene von Unfallopfern suchen verständlicherweise Rache, doch die jeweilige Staatsanwaltschaft sollte unbeeindruckt von entsprechenden Forderungen die Untersuchung durch die Flugunfalluntersuchungsbehörden abwarten. Wichtig für die Zukunft ist die weltweite Einrichtung von vertraulichen, straffreien Berichtssystemen, eine vertrauliche Behandlung von Informationen, die während einer Unfalluntersuchung vorliegen, und eine vertragliche Regelung über die Koordination zwischen der Flugunfalluntersuchung und den Ermittlungsbehörden.
Der vollständige Artikel "Criminalization of Air Disasters: What Goal, if any, is being achieved?", von Elaine D. Solomon und Dina L. Relles, ist erschienen in "Journal of Air Law and Commerce", Vol. 76, No. 3, 2011, Seite 407 - 456.